Annelise Kretschmer. Fotografien 1922-1975
Annelise Kretschmer beginnt ihre Laufbahn als Fotografin in den 1920er Jahren, während der Zeit der Neuen Sachlichkeit. Auch wenn ihre Arbeiten deutliche Parallelen zu dieser Strömung aufweisen, haben sie doch eine eigenständige und eigenwillige Ästhetik. Bis in die 1970er Jahre erschafft die gebürtige Dortmunderin Fotografien, die vor allem durch ihre Unmittelbarkeit beeindrucken. Die Museen Böttcherstraße präsentieren vom 12. Februar bis 21. Mai 2017 rund 80 größtenteils nie ausgestellte Vintage Prints (Originalabzüge) aus allen Schaffensphasen der Künstlerin.
Bereits in ihrem Elternhaus macht Annelise Kretschmer Bekanntschaft mit Künstlern der Neuen Sachlichkeit. Doch dass sie den Weg als Fotografin einschlägt, ist nur dem Hinweis einer Freundin auf diesen Beruf zu verdanken. Kretschmer volontiert erst in Essen und geht danach zu Ernst Fiedler nach Dresden. Schon früh offenbart sich ihre Fähigkeit, den Menschen im Bilde zu erfassen, unabhängig von allen Klischees. Dabei versucht Kretschmer stets ihr Gegenüber in einem Moment zu erfassen, der die Persönlichkeit des Individuums offenlegt. Vor allem ihre zahlreichen Kinderporträts sprechen eine neue Bildsprache, indem sie die gleiche Ernsthaftigkeit und Ausdruckstärke vermitteln, wie die von Erwachsenen.
Eine Reise nach Paris im Jahr 1928 stellt eine entscheidende Zäsur im künstlerischen Werk von Annelise Kretschmer dar. Hier schärft sie ihren besonderen Blick als Fotografin, den sie über ihr gesamtes Schaffen hinweg beibehält. Statt das mondäne Leben und die bekannten Sehenswürdigkeiten abzubilden, konzentriert sich ihr Blick auf nebensächliche Dinge, Strukturen und Lichtspiele. Sie belebt mit ihren Motiven die starre Optik des Apparats. Zurück in Dortmund eröffnet Kretschmer 1929 als eine der ersten Frauen in Deutschland ein Fotoatelier. Vor allem wegen ihrer eindringlichen Porträtaufnahmen wird sie zu einer etablierten Künstlerin in der damaligen Kunstszene. Ihre Arbeiten werden in allen wichtigen Fotografie-Ausstellungen in Berlin, Wien und auch Paris präsentiert, sie war außerdem Mitglied in der Gesellschaft Deutscher Lichtbildner (GDL) – bis sie als Tochter eines jüdischen Vaters in den 1930er Jahren ausgeschlossen wird. Eine schwere Zeit bricht für sie und ihre mittlerweile vierköpfige Familie an, in der Kretschmer zwischen 1937 und 1939 unter anderem in Worpswede lebt – der Ort, an dem Paula Modersohn-Becker 30 Jahre zuvor gearbeitet hat. Modersohn-Beckers Kunst ist Kretschmer sehr gut bekannt, da die Familie ein Kunstwerk der Malerin besitzt, das sie stets beeindruckte. In Worpswede erstellt Annelise Kretschmer eine Serie authentischer Aufnahmen von Torfbauern, Kindern und der Umgebung, in der sich nicht nur thematische Parallelen zu Modersohn-Becker offenbaren. Als überzeugte Anthroposophin versuchte Anneliese Kretschmer stets die Aura einer Person festzuhalten.
Nach dem Krieg arbeitet Annelise Kretschmer mit ihrer Tochter Christiane erneut in ihrem Fotoatelier in Dortmund. In dieser Zeit entstehen weitere wichtige Aufnahmen, auch von Persönlichkeiten der damaligen Kunstszene wie Ewald Mataré, Albert Renger-Patzsch oder Daniel-Henry Kahnweiler. Diese bisher eher unbekannten Motive sind Entdeckungen in einem 60 Schaffensjahre umfassenden Gesamtwerk, das nicht nur für sich allein überzeugt, sondern exemplarisch auch die Entwicklung der Fotografie zu einer eigenständigen Kunstform erzählt.
Die erste Station der Ausstellung ist vom 16. September 2016 bis 8. Januar 2017 im Käthe Kollwitz Museum, Köln. Zur Ausstellung ist der Katalog Annelise Kretschmer – Photographien im Emons Verlag, Köln, 120 S., 80 Abb. 19,95 € erschienen.